Nur die wart’n, komm’ in’ Garten

Ich hänge fest in Hotlines, Recalls. Dabei folgen Warteschlangen einem System und der Frage, wie sich effizient warten lässt. Ich hänge fest in Hotlines, Recalls. Ich fühle mich edukativ ignoriert.

Während ich in der Hotline des Kinderarztes warte: Die bekannteste Warteschlange in der europäischen Bildgeschichte ist der Totentanz. Sein Sujet ist die Gleichheit aller Menschen vor dem Tod. Und dessen Triumph. Der kollektive Körper unterstreicht die unausweichliche Tatsache, dass alles Leben im Tod enden wird. Der wohl berühmteste, weil riesigste, ist der Basler Totentanz, der um 1440 auf 60 Meter Länge und zwei Meter Höhe auf die Innenseite der Friedhofsmauer bei der Predigerkirche in Basel gemalt wurde: Er beginnt mit einem Predigtbild. Zwei aufspielenden Todesfiguren folgen 37 Tanzpaare, bestehend aus je einer Todesfigur und einem Sterbenden. Papst, Kaiser, Kaiserin, Abt, Äbtissin… dann letztlich Krämer, Koch und Bauer. In der typsierienden Aneinanderreihung bleibt die Hierarchie der gesellschaftlichen Ordnung intakt.

Ein Motiv, das zum religiöser Frömmigkeit aufrief? Definitiv, es prangt auf einer Klostermauer der Dominikaner. Soll ich mich also beim Warten meiner christlichen Erziehung gemäß am Riemen reißen und zur Telefonmusik fromm und sittsam auf der Stelle tanzen bis DANN alles vorbei sein wird?

Der Totentanz, sagen die Experten, ist auch eine visuelle Verarbeitung realhistorisch Geschehens: 1347 brach erstmals die Pest in Europa aus. Bis 1666 suchte sie den Kontinent alle zehn bis zwanzig Jahre als Lungen- und Beulenpest heim. In diesem Zeitraum entstanden die meisten Totentänze. Wie sehr die Angst vor Ansteckung das soziale Miteinander destabilisierte, lassen diese Bilder vermuten: memento mori – der Mahnung des Todes zu Lebzeiten. Der Tod trifft alle Menschen, egal, aus welchem Stand. Eine Übertragung dieser Gleichheit vom Jenseits ins Diesseits hätte dem Totentanz gesellschaftspolitische Sprengkraft geben können. Hat sie aber nicht.

Ich habe einen Termin beim Jobcenter. Meine Aussicht auf eine Vermittlung ist ziemlich gering. Mein Sachbearbeiter entschuldigt sich dafür, dass ich so lange habe warten müssen. Die Wanduhr verrät: Es waren genau 14 Minuten. Geht, finde ich, nehme meinen Sohn auf den Arm und werfe einen Blick aus dem Fenster, wo auf der Straße die Warteschlange der Hartzer mit dem Schwanz wedelt. Der Sachbearbeiter reicht mir Mappen für meine Bewerbungsunterlagen, Kugelschreiber und eine große Tüte, um all die Jobcenter-Artikel einzupacken. Er ist schlecht gelaunt. Mein Kind nervt ihn. Ich muss versichern, dass ich eine Betreuung für das Kind habe, sollte sich ein Job für mich finden. Ich aber habe Kunstgeschichte studiert. Die Familie, der ich entstamme, ist gegen Orchideenfächer.

In Hans Holbeins “Bilder des Todes“ (1538) klingt Gesellschaftskritik an. Der Tod tritt mitten ins gesellschaftliche Leben und trennt sie von ihren Attributen. Indem er den Reichen das Geld raubt, ist klar, dass diesem das Leben genommen ist. Der Tod zerreißt die scheinbare Natürlichkeit und bringt Bewegung in eine statische Hierarchie.

Mit dem schwarzen Tod wurde die Bürokratie geboren. Verwaltungsvorschriften, Quarantänemaßahmen und Reisepass sind Errungenschaften des Pestzeitalters. Italienische Städte sollen besser mit der Pest klargekommen sein, da sie schon über diese Strukturen verfügten. Der nordalpine Raum dagegen siechte dahin. Als ich dem Rapper und Politökonom Mohammed Abu Hajar davon erzähle und von der Geburt der Bürokratie im Geiste des Massensterbens, müssen wir beide lachen. Es ist Januar 2015. Seit drei Monaten wartet der Syrer auf seine Kostenübernahme – in einer Warteschlange vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, das wenige Monate später zum Symbol für das Versagen Deutschlands in der sogenannten Flüchtlingskrise werden wird. Das Lageso liegt nur 5, 3 Kilometer von der Marienkirche entfernt, in der ein knapp 23 Meter langer Totentanz die Turmhalle ziert.

Ahnungslos habe ich mich in einem Speed-Interview gegen zwei Bewerber durchgesetzt – und einen Job: Während ich in einem Nazibunker Kunstobjekte bewache und auf Besucher warte, google ich heimlich Überschriften: »Asyl in Deutschland: Wer Schutz braucht, muss warten«. »Flüchtlinge warten vor Lageso«. »Wartende Flüchtlinge werfen am Lageso Steine«. »Moabit hilft wartenden Flüchtlingen«. »Warten, Hoffen Bürokratie – wie laufen Asylverfahren ab«. Die Bilder dazu inszenieren die Flucht als körperliches Spektakel: Körper in Syrien jubeln, rebellieren. Körper krümmen sich in einem Boot, treiben leblos im Meer, wandern auf Straßen, stehen.

Wie zur Mahnung an das Massensterben hat sich die Schlange in Bewegung gesetzt. Indem sie Grenzen überwand, wurde sie zum Beweis für deren Durchlässigkeit. Aber auch innerhalb ihres Kollektivkörpers manifestieren sich Widersprüche des Systems, steht der eine innerhalb, der andere draußen. (Als Abu Hajar in einer höheren Lageso-Etage gesagt bekam: „Sie dürften gar nicht hier sein!“, entgegnete er: „Bin ich aber.“) Nur die warten, kommen in’ Garten. Nichts anderes suggeriert ein Pressefoto, das zeigt, wie Flüchtlinge nahe der österreichischen Grenze einem Polizeiwagen folgen. In lahmer Bewegung bleiben sie Gefangene innerhalb des bildlichen Rahmens. Stellvertretend für die da „draußen“ spukt die Warteschlange durch Europa.

Auch Malek ist Teil unserer Schlange. Er ist Rom, Wanderarbeiter. Er träumt von Norwegen und Abu Dabi. Wir kannten uns schon, als er noch illegal im Land war. Wir haben viele Gemeinsamkeiten, vermieten unsere Wohnung, wenn es nicht mehr weitergeht, machen schlecht bezahlte Jobs, damit unsere Kinder leben können. Wir finden beide, dass Frauen nicht zum Kinderkriegen da sind und der Müll uns alle kaputt macht. Wir prosten uns zu in einer Kellerbar, deren Stammgäste mit oder ohne Pass für vier Euro die Stunde aufm Abriss oder im Straßenbau malochen. Der Serbe neben mir hebt das Glas. Sein Sohn hatte mir am Morgen das Handy geklaut. Nun ist es wieder da. Živeli!

Am der 23. Januar 1924 liegt im Kolonnensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses der aufgebahrte Leichnam Wladimir Iljitsch Lenins. Die Menschenmenge schiebt sich an dem Einbalsamierten vorbei, stets darauf bedacht, in Bewegung zu bleiben. Ob in Moskau oder in Hanoi im Mausoleum am Leichnam Ho Chi Minhs, auch 2018 ist das Gedächtnisritual an die Revolution lebendig. Die Schlange darf nicht stehen bleiben.

 

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